Carl Spitzweg

Auf der Bastei (Der Posten – Friede – Gähnender Wachposten)

Details

Mit handschriftlichen Gutachten von Hermann Uhde-Bernays, Starnberg, vom 31.10.1958 und von Ernst Buchner, München-Pasing, vom 8.11.1958; außerdem ein Gutachten von Günther Roennefahrt, Berlin, vom 10.9.1959.

Wichmann 991.

Literatur:
Günther Roennefahrt, Carl Spitzweg. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde, Ölstudien und Aquarelle, München 1960, Kat.-Nr. 790;
Siegfried Wichmann, Vorposten des bewaffneten Friedens. Ein Beitrag zur Motivforschung. München 1982, S.5ff.;
Siegfried Wichmann, Carl Spitzweg. Friede im Lande – Auf der Bastei. Dokumentation, Starnberg-München, R.f.v.u.a.K. 1990, S. 5ff., Bayer. Staatsbibl. München, Inv.-Nr. Ana 656 SW 15;
Siegfried Wichmann, Carl Spitzweg, München 1990, S. 82 und 205, Kat.-Nr. 33;
Siegfried Wichmann, Carl Spitzweg. Verzeichnis der Werke, Stuttgart 2002, S. 410, Kat.-Nr. 991.

Ausstellung:
Carl Spitzweg und die französischen Zeichner, Haus der Kunst, München 1985, Kat.-Nr. 401.

Provenienz:
Wohl Verkaufsverzeichnis Nr. 125 („Friede“ Gähnende Schildwache. Spatz auf Canonen), 1856 an den Kunstverein Frankfurt/Main;
Privatbesitz, Hessen;
Lempertz, Köln, Auktion 442, 4. Mai 1955, Los 299, Tafel 37;
Privatbesitz, Düsseldorf;
Galerie Günter Meier, München;
Privatsammlung, Deutschland.

Beschreibung

Carl Spitzweg hat fast das ganze 19. Jahrhundert durchlebt – ein Jahrhundert voller Kriege und Unruhen, doch Spitzweg wäre nicht Spitzweg, wenn er wie seine Künstlerkollegen Peter von Hess oder Albrecht Adam vor ihm Kriegsereignisse direkt begleitet und dokumentiert hätte – Spitzweg beobachtet nicht den Krieg, er beobachtet den Frieden. Bei ihm sind aus den Orten des Krieges Oasen der Ruhe und Stille geworden, in denen man es sich so gut es geht eingerichtet hat: Auf der Festung ragt aus einer Schießscharte ein Kanonenrohr, doch ist es längst außer Funktion, Grashalme ragen aus seinem Rohr und ein Vogel beobachtet wachsam den Soldaten; weiße Fahnen der Kapitulation haben sich in weiße Wäsche verwandelt, und nur ein Wachposten verteidigt den Frieden. Das ist so ermüdend, dass der wachhabende, sich auf sein Gewehr stützende Soldat nur herzhaft gähnen kann – gähnende Langeweile macht sich auf der Festung breit. Der Soldat ist auf verlorenem Posten, es passiert gar nichts und man fragt sich, ob der Soldat je seinen Posten wieder verlassen wird, ob er da oben nicht womöglich vergessen wurde.
Es herrscht Stille und Friede im Land. So gab denn auch Spitzweg dem wohl größten Gähner der Kunstgeschichte den Titel „Friede“, als er das Bild um das Jahr 1856 malte. In seinem akribisch geführten Verkaufsverzeichnis verzeichnet Spitzweg 1856/57 mehrere Gemälde, denen er den Titel „Friede“ gab, doch lässt sich nicht eindeutig feststellen, ob auch unser Gemälde dort aufgeführt ist. Möglicherweise handelt es sich um das unter Nr. 125 aufgeführte Gemälde „Friede“ mit „gähnender Schildwache und Spatz auf Canone“ – Spitzweg hatte es 1856 zunächst in Basel angeboten und im Jahr darauf für 114 Gulden nach Frankfurt verkauft. Seit dem Ende der 1830er Jahre bis etwa 1860 hatte Spitzweg eine ganze Reihe solcher Bilder gemalt, auf denen Soldaten – allein auf Festungen den Frieden verteidigend – stricken, gähnen oder auch schlafen: Sie suggerieren friedliche Zeiten, Krieg und Konflikte scheinen fern und vergessen.
Spitzwegs Spott war wohlbekannt und richtete sich häufig gegen die Mächte des Staates, vor allem gegen seine Vollzugsorgane, seien es Zollbeamte, Wachtposten oder Bürgersoldaten. In insgesamt sechs Versionen des gähnenden Soldaten – eine Version in der Mannheimer Kunsthalle entspricht unserer angebotenen nahezu wörtlich – hat Spitzweg den Landeswächter über einen längeren Zeitraum hinweg seinem Spott ausgesetzt; er erscheint als Sonderling, als isolierter Einsiedler-Soldat, der den bewaffneten Frieden bewacht.
Die Beschäftigungslosigkeit der Uniformierten schuf groteske Bilder, in denen die alten Mauerreste einer Festung als Kulisse für den anachronistischen Verteidiger dienen. Laut Siegfried Wichmann geht die Festungsmauer, die sich gleichsam ins Bild schiebt, auf ein Fort zurück, das Spitzweg ähnlich bei einer vorgelagerten Festungsanlage in Verona gesehen hat, das er erstmals 1834 besucht hatte. Die alten Mauerreste sind von Efeu umrankt und von Kräutern und Stauden bewachsen, die Spitzweg mit großer Kenntnis und Liebe zum Detail schildert – es mag sein, dass sich hier auch seine frühere Ausbildung als Apotheker und Pharmazeut, als Botaniker und Chemiker bemerkbar macht. Doch auch die Bauformen der Bastei sind authentisch, hat Spitzweg doch laut seinen Tagebuchnotizen einigen fränkischen Festungen Besuche abgestattet und sie immer wieder in zahlreichen Zeichnungen studiert. So steht Festes, Steinernes und locker Begrüntes zusammen, jedes auf seine eigene Weise eine Art Stillleben, und hebt sich ab gegen den duftigen, windbewegten Wolkenhimmel
Doch bei allem Spott, den Spitzweg mit Sympathie über seine Protagonisten ausbreitet, obliegt seiner Ironie auch ein ernster Kern – als Spitzweg an dem Gemälde, seinen Tagebucheinträgen zufolge, im März und April 1856 arbeitete, bauten sich über Europa gerade dunkle Gewitterwolken auf: Im Frühjahr hatten die europäischen Mächte zusammen mit dem Osmanischen Reich gerade den „Pariser Frieden“ geschlossen und damit den Krimkrieg beendet, der ob seiner großen Verluste von Menschenleben europaweit in den Medien diskutiert wurde. Die Neuordnung Europas isolierte in der Folge aber die Großmacht Österreich und legte damit den Grundstein für die folgenden Kriege Preußens gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870/71. Diese Umwälzungen bedeuteten auch für die damalige Bevölkerung Unruhe und Unsicherheit, Mobilmachung und Not in Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen.
Dem politisch interessierten, auch gebildeten Spitzweg dürfte – nicht zuletzt durch die politischen Aktivitäten seines Vaters Simon – die Fragilität des Friedens bewusst gewesen sein, der sich in solchen Bildern mit unverkennbarer Ironie als Seismograf einer gefährdeten, gerade zerbrechenden Welt zeigt. Ein kräftiger Windstoß dürfte ausreichen, um die dünnen Wäschestangen zusammenbrechen zu lassen und damit auch die kleine Welt des Soldaten, in der er sich eingerichtet hatte. Tagebuchnotizen lassen erahnen, dass Spitzweg Teilhabe an diesen Ereignissen hatte, sie registriert und beobachtet hat, und auch schon vorher in der Revolution 1848, als König Ludwig I. abdanken musste, sind Spitzweg Verfolgung und Erschießungen nicht verborgen geblieben; nicht zuletzt hat er sich aktiv beteiligt, als er während der Revolution in das Münchner Künstler-Freikorps unter dem Generalissimus und Landschaftsmaler Wilhelm Gail eingetreten ist. Krieg und Schrecken war in Spitzwegs Alltag allgegenwärtig, in seinem langen Leben hat er drei Kriege und deren Auswirkungen erlebt: Napoleon Bonapartes Untergang zu Beginn des Jahrhunderts, den deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich 1866 und schließlich 1870/71 die Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg, an dem schlecht gerüstete bayerische Truppen an vorderster Front teilnahmen. Und trotzdem malt Spitzweg nicht den Krieg, er schildert nicht die Kriegsereignisse wie vor ihm etwa Albrecht Adam oder Peter Hess und er hat nie ein Schlachtfeld wie etwa Adolph von Menzel besucht. Er ist kein Chronist des Krieges, er malt den Frieden.
Es liegt außerhalb des Spotts und der Ironie, die der Soldat ausgesetzt ist, etwas tief Menschliches in seinen Bildern, eine Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, die man früher als kleinbürgerlich und biedermeierlich belächelt hat. Doch ist sie heute wieder aktueller denn je; angesichts der heutigen Ereignisse offenbart sich in Spitzwegs Gemälden der Wunsch nach einer friedlichen Welt, frei von Zerstörung und Krieg – gleichsam eine zutiefst menschliche Utopie, die aktuell wieder in weite Ferne gerückt ist.
Dr. Peter Prange

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