Details

Wichmann 219.

Literatur:
Siegfried Wichmann, Carl Spitzweg. Der Sonntagsjäger. Dokumentation, Starnberg-München, R.f.v.u.a.K. 1992;
Siegfried Wichmann, Carl Spitzweg. Verzeichnis der Werke, Stuttgart 2002, S. 173, Kat.-Nr. 219 (mit ganzseitiger Abb., S. 174);
Joachim Nagel, Besuche im glücklichen Winkel. Carl Spitzweg zum 200. Geburtstag, Belser Verlag Stuttgart, 2008, Abb. S. 69.

Ausstellung:
Carl Spitzweg. Reisen und Wandern in Europa und der Glückliche Winkel, Seedamm Kulturzentrum Pfäffikon/Haus der Kunst, München 2003, S. 252, Kat.-Nr. 147, mit farb. Abb. S. 253 (und mit Detailabb. S. 252), auf der Rahmenrückseite mit dem Etikett sowie einem weiteren Hängeetikett.

Provenienz:
Wohl Verkaufsverzeichnis Nr. 63 (Sonntagsjäger sitzend, en face mit Rehbock); 1846 nach Norwegen, Christiana, an den bayerischen Konsul verkauft;
Privatsammlung, Deutschland.

Beschreibung

Der Sonntag hat im Werk Carl Spitzwegs eine besondere Bedeutung – hier beobachtete er, wie aufstrebende, zu Wohlstand gekommene Bürger in ihrer gering bemessenen Freizeit ihren ganz eigenen Interessen nachgehen: Neben dem Kirchgang, der Spitzweg nur selten interessiert hat, war es der Sonntagsspaziergang, der den Spaziergängern bei Spitzweg alles abverlangte – sei es wegen der sommerlichen Hitze oder anderer Missgeschicke –, er schickte seine Protagonisten sonntags auf verbotene Wege und hier konnte der Bürger seinen schrulligen Interessen als Kaktusliebhaber oder Bücherwurm nachgehen, doch als größtes Übel galten die Sonntagsjäger, die am Sonntag ausschwärmten, um in der Wildnis zu jagen und Wild zu erlegen.
Den sogenannten „Sonntagsjägern“ begegnete man im 19. Jahrhundert allenthalben, seit im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen durch die Französische Revolution zunächst in Frankreich bereits 1798 das Jagdprivileg des Adels aufgehoben und eine Befreiung des Grund und Bodens von fremden Jagdrechten ausgesprochen worden waren. Fortan beanspruchte das Bürgertum ein eigenes Jagdrecht und schwärmte in die Wälder aus, um Wild zu erlegen, was allerdings kaum gelang. Im Vormärz war der Sonntagsjäger eine gemeinhin gefürchtete Figur, die aufgrund seiner unsachgemäßen Ausübung der Jagd allgemein dem Spott in Wort und Bild ausgesetzt war – Honoré Daumier etwa hat diesen Wahnsinn bürgerlicher Selbstverwirklichung in mehreren Lithografien geschildert. Auch in Deutschland folgten dem französischen Beispiel im Vormärz mehrere Einzelstaaten und auch in Preußen wurden nach der Revolution 1848 alle Jagdbeschränkungen aufgehoben.
„Sonntagsjäger“ war ein Spottbegriff des Adels und der Förster, weil es dem bürgerlichen Jagdliebhaber aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit nur in seiner Freizeit, also eigentlich nur am Sonntag, möglich war, der Jagd nachzugehen. Er war nicht fachgerecht ausgebildet und ob seiner naiven waidmännischen Vorstellungen und seiner jagdlichen Inkompetenz, die im schlimmsten Fall ihn selbst gefährdete, gefürchtet und dem Spott ausgesetzt, weil sich die wohlhabenden Städter nicht aus Liebe zu Wild und Natur der Beschäftigung mit der Jagd hingaben, sondern aus Prestigegründen. Das ehemalige Privileg des Adels hatte die Welt des Bürgers erreicht, der sich auf die Jagd begab, um seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu dokumentieren. Überall begegnete man dem Sonntagsjäger auf der vergeblichen Suche nach Jagdglück, er war fast zu einer Gefahr für die öffentliche Ordnung geworden. Nach 1850 gab es erste Bestrebungen, die Sonntagsjagd zu verbieten, auch um den Kirchgang und die Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen zu schützen. Noch 1895 warnte die „Heilige Familie“, eine illustrierte katholische Monatszeitschrift, vor den schlimmen Folgen dieser „Sonntagsentheiligung“, in der die Sonntagsjäger den Kirchgang durch die Sonntagspirsch ersetzen würden.
Der Sonntagsjäger war um 1850 also ein allgegenwärtiges gesellschaftliches Thema, er war in Musik und Literatur, im Theater präsent – und natürlich auch in der Malerei. Er war ein Thema, das wie geschaffen war für Spitzweg. Hier konnte er nicht nur die Marotten seiner Mitbürger offenlegen, sondern auch die gesellschaftlichen Widersprüche am Ende des Biedermeiers mit Ironie ins Bild setzen. Spitzweg hat in seinem Verkaufsverzeichnis seiner Gemälde für die Jahre 1840 bis 1846 insgesamt sieben Gemälde mit dem Thema aufgeführt – der Sonntagsjäger, meistens wenig waidmännisch mit hellem Mantel, Zylinder und lederner Jagdtasche ausgestattet, befindet sich auf der Pirsch, doch aufgrund seiner Sehschwäche im Wald herumirrend und vergeblich auf kapitale Beute hoffend. Ein anderer Bildtypus zeigt den Sonntagsjäger auf der Rast, in einem Moment des Innehaltens beim Frühstück (Prag, Narodni Galerie, Inv.-Nr. 010854). Er hat gerade seine Leckereien aus seiner Tasche geholt und verzehrt seinen Imbiss, als wie aus dem Nichts der Rehbock auftaucht, auf den er so lange gewartet hat. Diesem Typus gehört auch unser Sonntagsjäger an, der 1845 Spitzwegs Beschäftigung mit dem Thema beschließt. In seinem akribisch geführten Verkaufsverzeichnis scheint er als Nr. 63 auf, wo es heißt: „Sonntagsjäger (sitzend en face mit Rehböckchen)“. Spitzweg hatte ihn 1846 in Zürich angeboten, doch gelangte das Gemälde durch die Vermittlung seines Malerfreundes Eduard Schleich an den Bayerischen Konsul in Christiana in Norwegen.
Auch unser etwas korpulenter Sonntagsjäger mit seiner leicht geschwollenen Nase hat sich einen Moment des Innehaltens auf seiner anstrengenden Suche nach Beute gegönnt und sich auf einer mit Gras, Efeu und allerlei anderen Sträuchern bewachsenen Bank niedergelassen, hinter der sich eine mächtige Buche erhebt. Das Gewehr immer in Reichweite an einem Baum lehnend, hat er – als Ausdruck seines gehobenen Bürgertums bekleidet mit einem modischen weißen Rock, dazu eine rötlichbraune Weste mit Halstuch und eine blaugraue Hose – gerade sein Hähnchen ausgewickelt, und ist im Begriff, einen Happen zum Mund zu führen und diesen mit einem guten Schluck aus der Weinflasche herunter zu spülen. In diesem Moment des Genusses, der Ablenken soll von seiner bisher vergeblichen Suche nach Beute, taucht unversehens hinter der Buche der lang ersehnte Rehbock auf – er schaut den Sonntagsjäger direkt an und weiß in diesem Moment mehr als dieser. Er überrascht nämlich den Jäger, wo es doch eigentlich umgekehrt sein sollte! Er schaut keck im Wissen, dass es für den Sonntagsjäger wieder eine verpasste Gelegenheit sein wird, der Rehbock wird genauso schnell, wie er gekommen ist, wieder verschwinden und den Sonntagsjäger in seinem Elend allein lassen. Dieser hat den Kopf zum Rehbock gewendet, schaut ihn an und wird der Situation gewahr; er ist im Wissen allein, dass es wieder nichts wird mit der großen Beute, er hat die Backen resignierend aufgeblasen ob der verpassten Gelegenheit.
Es sind diese Momente des Unerwarteten und der Überraschung, in denen das Geschehen sich auf eine andere Seite wendet, die Spitzweg immer wieder beobachtet: Für den Sonntagsjäger ist die Gelegenheit vorbei, bevor sie überhaupt zu greifen war – er hatte nicht einmal die Chance, sein Glück beim Schopfe zu packen und muss die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen. Man kann nur hoffen, dass er bei seinem Mahl ein wenig Trost findet ob seines Missgeschicks, für das es nun auch noch Zeugen gibt. Nicht nur der Rehbock hat ihn beobachtet, auch der Maler und damit der Betrachter bezeugt sein Malheur. Er muss schmunzeln über des Jägers Jagdpech, doch lautes Lachen ist ihm versagt, weiß er doch, dass die beobachtete Szene nur zu menschlich ist und jederzeit ihm selbst ein ähnliches Missgeschick widerfahren könnte.
Das Gemälde erzählt von Spitzwegs Zuneigung den Menschen gegenüber, seiner Zugewandtheit seinen Zeitgenossen gegenüber, denen er auch im Moment des Unglücks mit tiefer Sympathie begegnet. Dieses Mitfühlen mit ihrem Schicksal zeigt sich auch in einer Bleistiftzeichnung, mit der Spitzweg die Figur des Jägers mit großer Zuwendung vorbereitet bzw. verwendet hat (Abb.). Sie zeigt einen bereits etwas älteren Mann, der sich – eine große Tasche um die Schulter gelegt – zum Mahl mit einer Weinflasche niedergelassen hat, um sich zu stärken. Es ist der gleiche kurzsichtige Typ, der überrascht, stirnrunzelnd sein Haupt nach links wendet – hier noch nicht ahnend, was ihm im Gemälde widerfährt. Er ist fein, mit viel Liebe zum Detail beobachtet und zeugt einmal mehr von der besonderen Aufmerksamkeit und Zuneigung, die Spitzweg seinen Mitmenschen zuteilwerden lässt.
Dr. Peter Prange

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