Carl Spitzweg

Der Antiquar (Bücherkramer – Der Antiquar und zwei Mädchen)

Details

Roennefahrt 1356; Wichmann 329.

Literatur:
Hermann Uhde-Bernays, Carl Spitzweg – Der Altmeister Münchner Kunst, München 1915, Abb. 70;
Hyacinth Holland, Karl Spitzweg, München 1916, S. 29, Abb. 58;
Hermann Uhde-Bernays, Carl Spitzweg. Des Meisters Leben und Werk, 5. Aufl., München 1919, Abb. 80;
Richard Braungart, Spitzwegs bürgerlicher Humor, München 1922, Abb. S. 35;
Fritz von Ostini, Aus Carl Spitzwegs Welt, Barmen 1924, S. 26;
Max von Boehn, Carl Spitzweg, 4. Aufl., Bielefeld/Leipzig 1937, S. 13, Abb. S. 22;
Günther Roennefahrt, Carl Spitzweg. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde, Ölstudien und Aquarelle, München 1960, S. 287, Kat.-Nr. 1356, Abb. S. 124;
Eugen Kalkschmidt, Carl Spitzweg und seine Welt, 4. Aufl., München 1966, S. 134f., Abb. 99;
Siegfried Wichmann, Das große Spitzweg-Album, Herrsching 1984, S. 60f., mit farb. Abb. und Detailabb.;
Siegfried Wichmann, Carl Spitzweg und die französischen Zeichner, München 1985, S. 252f., Nr. 396f., S. 463, Nr. 396;
Siegfried Wichmann, Carl Spitzweg. Verzeichnis der Werke, Stuttgart 2002, S. 208, Kat.-Nr. 329, mit farb. Abb.

Ausstellung:
„Gedächtnis-Ausstellung“, Kunstverein München 1908, Kat.-Nr. 199.

Provenienz:
Verkaufsverzeichnis Nr. 263 („Antiquar und zwei Mädeln“);
1870 an August Humplmayr (Inhaber der Galerie Wimmer), München, als „Antiquar und zwei Mädchen“;
Galerie Wimmer, wohl Niederlassung New York, verso mit dem Stempel;
Koller, Zürich, Auktion 49/2, 12.11.1982;
Sammlung Max König (1894-1983), Duisburg, in obiger Auktion erworben;
danach im Erbgang an Familienbesitz, Nordrhein-Westfalen;
danach Privatbesitz, Hessen.

Beschreibung

Carl Spitzweg ist ein großer Menschenfreund – wir alle bewundern seine liebevoll beobachteten Städter, wie sie ihren teils verschrobenen Tätigkeiten nachgehen: Da ist der Schmetterlingsjäger, der Alchimist, der sich über eine Glaskugel beugt, der Geologe, der verspottete Sonntagsjäger, der schrullige Kaktusliebhaber oder der Bücherwurm, der in seiner Bibliothek, in ein Buch versunken, auf der Leiter steht. Wiederholt schildert Spitzweg Lesende oder in Bücher vertiefte, mit ihnen beschäftigte Personen wie Bibliothekare, Schreibende oder Wissenschaftler. Bücher und das Lesen allgemein sind bei Spitzweg hoch emotionale Themen – auch auf seinem berühmtesten Gemälde liest der arme Poet in seiner spärlichen Dachkammer – in einer Zeit, in der sich ein Lesepublikum entwickelte, in der die allgemeine Schulpflicht jungen Menschen das Lesen ermöglichte, in der Leihbibliotheken den Zugang zu Unterhaltungsliteratur ermöglichten. Schriftsteller und Journalist wurden anerkannte Berufe, Frauen wie Rahel Varnhagen, Dorothea Schlegel oder Henriette Herz hatten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts literarische Salons veranstaltet, es entstand die Gattung der Jugend- und Abenteuerliteratur, und die zahlreichen Zeitungen, die jetzt auch täglich erschienen, verhießen die Teilhabe an der Welt. Lesen hatte für die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft eine kaum zu unterschätzende Bedeutung, Lesen bedeutete Bildung, und war geeignet, die Standesgrenzen zunehmend aufzulösen. Der Forderung nach Égalité, einer der drei Losungen der Französischen Revolution, verhalf Lesen in Form von Bildung auch in Deutschland zum Durchbruch.
Eine wichtige Vermittlungsrolle konnten dabei nicht nur Bibliotheken spielen, sondern auch Antiquariate, die in dieser Zeit eine erste Blüte erlebten. Bei Spitzweg hat der Antiquar seinen Stand auf einem kleinen Platz in einer verwinkelten Stadt unter offenem Himmel aufgeschlagen – nur eine Plane spendet Schatten. Die Situation erinnert ein wenig an die Bouquinisten in Paris, die bis heute noch an der Seine ihre kleinen Buchstände täglich öffnen, um ihre Ware anzubieten.
Auf vorliegendem Bild sitzt der schon etwas ältere Antiquar mit übereinandergeschlagenen Beinen auf seinem Stuhl, bekleidet mit einem bereits aus der Mode gekommenen Rock und auf dem Kopf eine Schirmmütze tragend, die ihn nicht nur vor dem einfallenden Sonnenlicht schützt, sondern ihm auch den Anschein von Gelehrsamkeit verleiht. Neben sich sein Stand, auf dem im Schatten einige Bücher aufgereiht sind – genauso wie gegenüber an der Häuserwand, an der die Bücherrücken im Sonnenlicht bunt herausleuchten. Wohl alte Stiche hängen über die Tischkante, Mappen lehnen an der Hauswand, an die der Antiquar auch zwei Stiche gepinnt hat: Links einen Stich wohl nach Claude Lorrains berühmtem „Liber Veritatis“, in dem er seine Kompositionen gesammelt hatte, und rechts ganz unbescheiden eine Reproduktion von Spitzwegs Bücherwurm. Die angebotenen Bücher scheinen nicht mehr im besten Zustand zu sein, sodass sich der Eindruck aufdrängt, der Antiquar habe in geschäftlicher Hinsicht seine besten Zeiten bereits hinter sich. So ist er, die Lesebrille auf der runden Nase, in sein Buch vertieft, ohne zu merken, wie die Welt an ihm vorbeizieht: Im Schatten einer engen Gasse steigen zwei junge, nach neuester Mode gekleidete Damen die Stufen einer Treppe hoch – sie haben soeben den Stand des Antiquars passiert, doch hat er sie nicht bemerkt.
So mag man in einem solchen Gemälde lesen, dass das Leben an einem vorüberzieht, wenn man sich nur seiner einen Leidenschaft hingibt. Es scheint möglich, dass darin durchaus die eigene Biografie reflektiert wird – wie der Antiquar war Spitzweg mit einer auffallenden Nase gesegnet und Brillenträger. Auch die ostentative Präsentation der Reproduktion eines eigenen Gemäldes an der Hauswand mag in eine solche Richtung deuten, zumal auch Spitzweg einen größeren Vorrat an Gemälden in seinem Atelier hatte, die sich nur schleppend verkauften. Zu diesen gehörte auch der Antiquar, der wohl bereits um 1850/60 entstanden ist, doch erst viel später verkauft wurde. Ob sich Spitzweg selbst mit dem Antiquar identifiziert, an dem das Leben vorbeizieht, wäre eine spannende Frage.
Das Gemälde hat Spitzweg ungewöhnlich akribisch vorbereitet – es existieren zahlreiche Zeichnungen, die Detailstudien zeigen, u. a. auch den Antiquar. „Jeder hat seinen Thron“, lautet die eigenhändige Bezeichnung auf der vorbereitenden Studie (Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum, Inv.-Nr. G 1916/1) – „thront“ der etwas weltfremde Antiquar vor seiner Ware, während das Leben an ihm vorbeizieht? Ist Spitzwegs Thron die Malerei, verlässt er seinen Elfenbeinturm der Malerei nicht mehr, ist er als Beobachter mehr außen vor als mittendrin? Ist er ähnlich wie der Antiquar der Welt entrückt?
Spitzweg verlässt sich zwar auf ein bewährtes, häufig erprobtes Kompositionsschema – ein kleiner Platz in einer mittelalterlich anmutenden Stadt mit engen, verschatteten Gassen, die einen Ausblick auf den blauen Himmel in der Ferne bieten, bildet die Kulisse –, doch hat er unserem Gemälde noch eine kleine Ölstudie gleichsam vorgeschaltet, um ihre Wirkung zu erproben. Sie ist erst letztes Jahr wieder bei Neumeister in München aufgetaucht (Neumeister, München, Auktion 31. März 2022, Los 337). Danach hat Spitzweg unser Gemälde gemalt, von dem Siegfried Wichmann, der Verfasser des Werkverzeichnisses von Spitzwegs Gemälden, irrtümlicherweise annimmt, es existiere in zwei Versionen. Unser Gemälde ist dem von Spitzweg geführten Gemäldeverzeichnis (Nr. 263) zufolge erst 1870 zusammen mit einem Kaktusliebhaber und einem Postboten an August Humpelmayr verkauft worden, der 1859 die Galerie Wimmer gekauft hatte und weltweit tätig war. Er erschloss der Galerie, die nun Galerie Wimmer & Co hieß, neue Märkte, vor allem in England und den USA, wo er auch Filialen eröffnete. Dies ist insofern für unser Gemälde von Belang, als es auf der Rückseite der Leinwand, die von der in der Bayerstraße 95 ansässigen Malerleinwand-Fabrik A. Schutzmann stammt, den Stempel „Wimmer & Co Gallery of Fine Arts Munich“ trägt, der nur dann angebracht wurde, wenn das Gemälde für den Verkauf in den USA bestimmt war. Es ist wahrscheinlich, dass das Gemälde an einen unbekannten Liebhaber Spitzwegs in die USA verkauft wurde, doch war es offensichtlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Besitz des Generalmajors Carl Loreck, der es als Leihgabe für die Gedächtis-Ausstellung im Kunstverein zur Verfügung stellte. Danach verliert sich die Spur des Gemäldes, bis es 1982 bei Koller in Zürich wieder auftaucht, wo es von Max König für seine Sammlung erworben wurde.
Dr. Peter Prange

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