Details

Richter 174.

Literatur:
Cornelia Richter, Ich weiß eine schöne Blume. Werkverzeichnis der Scherenschnitte, München 1981, S. 133, Kat.-Nr. 174, mit Abb.

Provenienz:
Sammlung Otto Speckter, Hamburg;
Privatbesitz, Norddeutschland.

Beschreibung

Aus einem Kelch von fünf schmalen, spitz zulaufenden und gezackten Blättern steigt ein sich mehrmals verzweigender schmaler Stengel empor, an dessen Enden sich jeweils eine Blüte entfaltet. Ihr Blühen zeigt Runge als zeitliche Spanne – von der gerade aufbrechenden Blütenknospe bis zur voll entfalteten Blüte. Ihrer Blüte liegt eine eigene Symmetrie zugrunde – acht Kompartimente mit jeweils vier Zacken bilden in kreisförmiger Anordnung die voll entfaltete Blüte. Runge zeigt die Pflanze nicht nur in den verschiedenen Stadien ihres Erblühens, sondern auch von allen Seiten – als Aufsicht und als Ansicht von der Seite –, sodass man als Betrachter das Gefühl hat, man könne anhand der Umrisse den Wuchs der Pflanze nachvollziehen, gleichsam ihn an den Umrissen sehend abgehen zu können.
Runge hat die zarte Blume – hier eine Kornblume – virtuos aus dem weißen Papier herausgeschnitten und man meint, dass Runge der weißen Fläche den Zauber des Lebendigen entlockt. Die Blüten entfalten sich nicht nur, man meint, dass sie sich jeden Moment im Spiel des Windes zu bewegen und in der Luft zu winden beginnen. Das ausgeschnittene Papier ist weiß, ohne jede Strukturierung und Binnenzeichnung, reine Fläche, und doch so lebendig. Schmal und elegant wachsen die Blätter empor, von denen eines abgeknickt ist und so eine Räumlichkeit suggeriert, die durch den farblichen Kontrast zur blauen Unterlage noch gesteigert wird – er hebt die Kornblume ab und lässt sie im Raum in einer Weise stehen, dass sie gleichsam „im Raum ihrer Farbfläche“ (Harald Eggebrecht) schwebt.
Die Pflanzen für seine Scherenschnitte begegneten Runge auf zahlreichen Spaziergängen und Wanderungen in der Umgebung von Hamburg und seiner Geburtsstadt Wolgast, um hernach „häufig die feinsten und zärtesten Theile der Blüthen und Pflanzen mit dem edelsten Geschmack“ nachzubilden „und den Gegenstand bis zur Wurzel“ zu verfolgen, wie Runges Bruder Daniel berichtet. Daniel überliefert auch, wie leicht seinem Bruder das Herstellen der Schnitte fiel: „Er fertigte dergleichen in den zerstreutesten Momenten, sich dabey über jedes andre unterhaltend und das entscheidende Gebilde schien sich bey dieser gleichsam plastischen Kunstübung fast wie selbstthätig unter der Scheere in seiner Hand zu bewegen“. Dies geschah meist bei Abendunterhaltungen im Kreis der Familie Speckter in Hamburg, aus deren Besitz auch unsere beiden Scherenschnitte stammen.
Im kunst- und literaturinteressierten Kreis um Johann Michael Speckter, der mit Runges Bruder Daniel, Friedrich August Hülsenbeck und Johann Friedrich Wülfing 1793 in Hamburg eine Handelsgesellschaft gegründet hatte, empfing der junge Runge ab 1795 prägende Impulse für sein Schaffen, indem die Pflanze eine besondere Bedeutung erlangen sollte. Runge, neben Caspar David Friedrich der Erfinder der Romantik, begründete seine „neue Kunst“ auf dem Studium der Natur und sah in der einzelnen Pflanze den „lebendigen Geist Gottes“ walten. Die Pflanze als Geschöpf Gottes und dieser Schöpfung auf den Grund gehen – diesen Ansatz verfolgen in besonderer Weise Runges Scherenschnitte von heimischen Pflanzen. In ihnen entfaltete sich sein Kosmos aus Vorgestelltem und Dargestelltem; sie gaben seiner Einbildungskraft Gestalt, um die Entfaltung der Naturkräfte nachzuvollziehen, und bildeten so die Basis seines Form- und Gestaltdenkens. Er entwickelte seine Bildideen aus der Fläche und dem Kontrast von Hell und Dunkel und nicht zuletzt ist die Umrisslinie, die dem Scherenschnitt zugrunde liegt, konstituierend für sein gesamtes Werk.
Dr. Peter Prange
– Mit vereinzelten, kaum wahrnehmbaren winzigen Fleckchen, sonst gut erhalten.

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