Details

Richter 183

Literatur:
Cornelia Richter: Ich weiß eine schöne Blume. Werkverzeichnis der Scherenschnitte, bearbeitet von Cornelia Richter, München 1981, S. 134, Kat. Nr. 183, mit s/w Abb.

Provenienz:
Nachlass Erwin Speckter, Hamburg;
Privatbesitz, München;
Karl & Faber, Auktion 150, 28.11.1979, Los 122 (Märzenbecher);
Privatbesitz, Süddeutschland.

Description

Zwischen fünf schmalen, teilweise abgeknickten Blättern sitzt die nach links geneigte, weit geöffnete Blüte auf einem zart ausgebildeten, leicht gebogenen Stengel – das alles ist aus einem weißen Papier virtuos herausgeschnitten. Runge entlockt der weißen Fläche gleichsam den Zauber des Lebendigen, und man möchte denken, dass die Pflanze – hier eine Narzisse – sich jeden Moment vollständig entfaltet und bewegt, ihre Dreidimensionalität und Farbigkeit sichtbar werden im Licht, das aus ihr hervorleuchtet. Die farbige Unterlage tut ihre Wirkung dazu; der Kontrast zum blauen Papier belebt die Pflanze, hebt sie ab und lässt sie im Raum stehen – sie schwebt gleichsam im “Raum ihrer Farbfläche” (Eggebrecht).
Philipp Otto Runge, neben Caspar David Friedrich der Erfinder der Romantik, erkannte ähnlich wie dieser in der Landschaft die Offenbarung Gottes und begründete seine “neue Kunst” auf dem Studium der Natur. In der einzelnen Pflanze kam für Runge der “lebendige Geist Gottes” zur Anschauung und die Pflanzenscherenschnitte spiegeln die besondere inhaltliche Bedeutung der Pflanze für Runges gesamtes künstlerisches Schaffen wider. Runge schnitt die Pflanzen der heimischen Flora, die ihm auf zahlreichen Spaziergängen und Wanderungen begegneten, um hernach “häufig die feinsten und zärtesten Theile der Blüthen und Pflanzen mit dem edelsten Geschmack” nachzubilden “und den Gegenstand bis zur Wurzel” zu verfolgen, wie Runges Bruder Daniel berichtet. Daniel beschreibt auch, wie leicht seinem Bruder das Herstellen der Schnitte fiel: “Er fertigte dergleichen in den zerstreutesten Momenten, sich dabey über jedes andre unterhaltend und das entscheidende Gebilde schien sich bey dieser gleichsam plastischen Kunstübung fast wie selbstthätig unter der Scheere in seiner Hand zu bewegen”.
In den Blumenschnitten vereint Runge botanische Kennerschaft und eine Ökonomie der formalen Mittel, die heute an Ostasien denken lässt, doch was bedeuteten sie für Runge? Waren sie, wie Daniel es nahelegt, ein Nebenprodukt, gleichsam eine Gelegenheitsarbeit zur Begleitung eines geselligen Abends oder nur eine virtuose Fingerübung? Sicher sind sie Zeichen seiner Virtuosität im Ausschneiden von Papier, dem sich Runge seit frühester Kindheit gewidmet hatte und das ihn sein ganzes künstlerisches Leben begleiten sollte, doch dort, wo Runge gewissermaßen zweckfrei aus Papier schneidet, entfaltet sich vor allem sein Kosmos aus Vorgestelltem und Dargestelltem. Seine Scherenschnitte – auch im Faltschnittverfahren, in dem das Papier ein- oder mehrfach gefaltet war (Los xx) – gaben seiner Einbildungskraft Gestalt, um die Entfaltung der Naturkräfte nachzuvollziehen, und bildeten so die Basis für Runges Form- und Gestaltdenken. Er entwickelte seine Bildideen aus der Fläche und dem Kontrast von Hell und Dunkel und nicht zuletzt ist die Umrisslinie, die dem Scherenschnitt zugrunde liegt, konstituierend für sein gesamtes Werk. Sie sind in gewisser Weise die Essenz seiner Kunst, sie sind reine Konturen- und Flächenkunst, die wesentlich Runges Selbstverständnis als Künstler bestimmt haben. In seinen Scherenschnitten verzichtet Runge auf jede Binnengestaltung, er entwickelt die Pflanze ganz aus der Fläche und dem Kontur, nur durch Überschneidungen schafft er den Eindruck von Raum und Volumen. Er erreicht damit jenen Grad von Abstraktion und Stilisierung, der ihn unabhängig von der Erscheinungsvielfalt der einzelnen Blumen und Blätter das “Charakteristische” der Pflanze – wie Runge es selbst nannte – herausfiltern lässt, ohne dabei die bildliche Gesamtwirkung zu vernachlässigen.
Neben dem “Charakteristischen” forderte Runge für alle Kunstwerke “Regularität”, die sich durch eine ausgewogene, zur Symmetrie neigende Anordnung der einzelnen Pflanzenelemente ausdrückt. Noch stärker als die Einzelblumen unterliegen die Faltschnitte dem Postulat der “Regularität” (Los xx), in denen Runge symmetrische, sich auch wiederholende Gestaltungsprinzipien verwirklichen konnte. Dies ist kein unwesentlicher Aspekt, sollten die Scherenschnitte doch auch zu praktischen Zwecken dienen – etwa als Dekoration eines Lampenschirms oder auch als Vorlage für fabrikmäßig hergestellten Wandschmuck im Sinne klassizistischer Friese.
Runge wollte auch seine Malerei als monumentale Raumausstattungen verwirklicht sehen, was sein früher Tod jedoch verhinderte. Sein malerisches Werk ist nur als Fragment überliefert, doch hatte es zeitlebens einen tiefen inneren Zusammenhang zu seinen Scherenschnitten. Es war Alfred Lichtwark, erster Direktor der Hamburger Kunsthalle, der in Runges Scherenschnitten nicht nur die “naive Kundgebung seines künstlerischen Wesens” erkannte, sondern auch schon den “Kern der Anschauungen, die er nachher so beredt verfocht”. Gegenüber seinem Freund Johann Heinrich Besser hatte sich bereits der 20jährige Runge am 25. Dezember 1797 dahingehend geäußert: “Ich wollte doch, daß der Zufall mir statt der Scheere etwas anderes zwischen die Finger gesteckt hätte, denn die Scheere ist bey mir nachgerade weiter nichts mehr als eine Verlängerung meiner Finger geworden, und es kommt mir vor, als wenn bey einem Mahler dies mit dem Pinsel usw. eben der Fall ist, da er denn mit diesem Zuwachs an seinen Fingern seiner Empfindung und den lebhaftesten Bildern seiner Phantasie nur nachzufühlen braucht.” Zu jenem Zeitpunkt war Runge bereits aus dem mecklenburgischen Wolgast zusammen mit seinem Bruder Daniel nach Hamburg übersiedelt und schickte sich an, Maler zu werden, was nicht ohne innere Konflikte verlief. Die Scherenschnitte blieben aber auch für den Maler Runge eine Konstante seiner Kunst in der Weise, wie er sie 1802 gegenüber dem Verleger und Buchhändler Friedrich Perthes ausdrückte: “[…] ich meine, daß die Figuren, die ich mir denke und zu dem Bilde brauche, in ihrer Kunstwahrheit, in Ansehung dessen, wie sich die Natur in die Idee fügen muß, nur so hinschreiben könne, ohne weiteres großes Studium, eben wie ich mit der Scheere eine Blume ausschneide.” – Mit vereinzelten winzigen Fleckchen, sonst gut erhalten.

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