Stay at home ist die neue Biedermeierlichkeit

Jüngst ist in der FAZ Edward Hopper als Illustrator der Coronakrise bezeichnet worden, allerdings mit mäßigem Erfolg.

Jüngst ist in der FAZ Edward Hopper als Illustrator der Coronakrise bezeichnet worden, allerdings mit mäßigem Erfolg. Wie kein anderer versteht er sich zwar auf Vereinzelung, Leere und Abstand seiner Protagonisten, doch ist es immer die Erzählung von einer freiwillig gewählten Einsamkeit, die auch das Gegenteil möglich erscheinen lässt. In der heutigen Zeit zwingt uns dagegen das Virus zu Abstand und Alleinsein, wir müssen uns auf Balkonien zurückziehen und sind in Vielem auf uns selbst gestellt. Wir machen das Beste aus der ungewohnten Situation – wir geben dem scheinbar Unbedeutenden auf einmal wieder größeres Gewicht, entwickeln seltsame Ideen – etwa übersprungsartig die Küche zu streichen – und richten uns in unserer neuen Beschränktheit ein. Stay at home ist die neue Biedermeierlichkeit, die bereits im 19. Jahrhundert eine ganze Epoche prägte. Sie ist eng mit den Verwerfungen der napoleonischen Zeit und den politischen Restriktionen der Restauration nach dem Wiener Kongress 1815 verbunden – die allgemeine Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt und das aufstrebende Bürgertum antwortete mit einem Rückzug ins Private. Diesem Rückzug ins Private hat kein Geringerer als Carl Spitzweg mit feiner Ironie nachgespürt – seine einsamen Protagonisten waren oft auch nicht freiwillig allein, denn die politischen Beschränkungen zwangen sie zu Kontaktverzicht und sozialer Isolation. Die Bewohner seiner Bilder entwickelten seltsame, auch skurrile Gewohnheiten, in denen sie ganz sie selbst sein konnten. Wir sehen heute meist spöttisch auf seine Kakteenliebhaber, die auf ihren Terrassen ihre Kakteen anbetend gleichsam „umarmen“, oder die Mönche, die sich allein den Freuden des Weins hingeben, doch ist ihre Situation nicht unserer heutigen ein bisschen vergleichbar? Auch wir sind momentan gezwungen, uns ins Private zurückzuziehen, weshalb diese kleinen, liebevoll geschilderten Vergnügungen, die Spitzweg so groß macht, im Angesicht der aktuellen Lage für uns eine ganz neue Bedeutung gewinnen. Und das muss ja nicht schlecht sein!

Aus unserer Auktion 295 | Alte Meister & Kunst des 19. Jahrhunderts: